Das Müttermanifest Thesenpapier, 1987 von Gisela Erler

Das Müttermanifest

Leben mit Kindern – Mütter werden laut
I.
Es ist an der Zeit für eine neue Frauenbewegung, eine Bewegung, die die Wirklichkeit, die Wünsche und Hoffnungen von Müttern mit Kindern ebenso konsequent und nachdrücklich vertritt wie die Interessen kinderloser Frauen.

Es ist an der Zeit, daß die Mehrheit der Frauen, die Mütter, sich selbst vertreten.
Es ist an der Zeit, daß nicht mehr andere Frauen oder auch Männer den Müttern vorschreiben, wie ihre Lebensplanung, ihre Gefühle für Kinder und Männer, ihre Einstellung zu Beruf, Karriere, Haushalt, Gesellschaft und Kindererziehung auszusehen haben.

Es ist an der Zeit, daß die Frauenbewegung, die Grünen, die Linke und die konservativen Kräfte sich damit auseinandersetzen, daß Mütter ganz und gar grundsätzliche Veränderungswünsche an die Strukturen von Familie, Nachbarschaft, Beruf, Öffentlichkeit und Politik haben.

So wahr es ist, daß es Mütter gibt, die die bisherigen Entwürfe und Ansätze der Frauenbewegung und der politischen Kräfte als hinreichenden Einstieg in eine mütter-, kinder-, menschenfreundliche Gesellschaft betrachten, so offensichtlich teilt die große Mehrheit von Müttern diese Haltung nicht für sie steht die Diskussion über ein insgesamt tragfähiges, sinnvolles Emanzipations- und Lebensmodell noch aus.
Es ist an der Zeit zu verstehen, daß Mütter außerhalb ihrer vier Wände nicht nur als Arbeitskräfte, Ehefrauen, Politikerinnen anwesend sein möchten, sondern auch Raum für ihre Kinder fordern. Eine Gesellschaft, die Kinder an der Hand zulassen soll., bedeutet eine ganz grundsätzliche Herausforderung an alle vorgegebenen Strukturen. Umdenken tut Not und Mütter sind allenthalben dabei, so wie vor zwanzig Jahren die jungen Frauen der Frauenbewegung, alles noch einmal neu zu hinterfragen und dabei ganz neue Dimensionen zu entdecken.

Sie sind immer weniger bereit, sich damit abzufinden, daß Berufsleben, Terminplanung, Veranstaltungen, jede Form von Öffentlichkeit, de facto davon ausgehen, Mütter hätten kein Recht, dabei zu sein oder wären selbst dafür verantwortlich, sich die Möglichkeiten zur Teilnahme zu schaffen. Sie wünschen endlich aktiver Teil jener Öffentlichkeit zu werden, aber nicht zu den rigorosen Bedingungen, die viele progressive Dauerpolitiker/innen oder rückwärtsgewandte „Familienfreunde“ ihnen aufzwingen möchten.
Was ansteht, ist nicht mehr und nicht weniger als die Schaffung einer mütter- und kinderfreundlichen Öffentlichkeit, einer öffentlichen Wohnstube, eines nachbarschaftlichen Kinderzimmers, einer Überwindung der engen Familiengrenzen, ohne daß die Logik der Kneipe, des Betriebs oder gar der traditionellen Politik alles Leben durchdringt.

Im Rahmen einer solchen grundsätzlichen Um Orientierung muß Platz sein für verschiedene Lebensentwürfe von Müttern, für Beruf und/oder Hausarbeit, Nachbarschaftsarbeit, große und kleine Politik. Wenn endlich Bedingungen geschaffen sind, die es zulassen, daß Mütter und Kinder sich wohlfühlen, einbringen und entlastet werden, dann werden auch kinderlose Frauen und vielleicht auch Männer Lust und Laune haben, teilzuhaben an dieser bunten und lebensfrohen Welt, die ihre Lebendigkeit auf alle Institutionen ausstrahlen kann.

Die Zeit der Klage, des Rückzugs, des Lamentierens und Sich-Infragestellens ist vorbei. Mütter lassen sich nicht mehr fragen, ob und warum sie Kinder haben dürfen, sondern sie fragen die Welt, warum sie ihnen und ihren Kindern nicht den legitimen, notwendigen, sinnvollen Raum gibt – wo doch die Zukunft von ihnen abhängt und die Grundlagen des psychischen und physischen Wohlbefindens letztlich der gesamten Gesellschaft von ihnen geschaffen werden.

Raum für Mütter und Kinder zu fordern, heißt nicht etwa, die Frauenbewegung zu schwächen oder zu spalten. Es heißt auch nicht, Männer auszuschließen. Im Gegenteil: nur starke lebenslustige Mütter und selbstbewußte Kinder, die spüren, daß für sie auch Platz ist, sind Partnerinnen für die Frauen, die sich für einen Lebensentwurf ohne Kinder entschieden haben und für die Männer, die Väter sind oder auch nicht. „Black is beautiful“, war der Ausgangsslogan für die Bewegung der Schwarzen in den USA, „small is beautiful“, stärkte die ökologische Bewegung, „motherhood is beautiful“‚, könnte die Grundlage für ein neues Selbstbewußtsein von Müttern werden, das den Durchbruch für eine Rückkehr von Müttern und Kindern in die Gesellschaft schafft.

II.
Erst ein sicherer Umgang mit den Stärken und Befriedigungen, die im Muttersein auch liegen, ergibt eine klare Grundlage für die Auseinandersetzung mit all den Mißständen, Verkürzungen und Deformationen, unter denen Mutterschaft heute auch gelebt wird.

Auf der gemeinsamen Grundlage eines solchen starken, aber auch ungeduldigen Lebensgefühls fand am 22./23. November 1986 in Bonn – Beuel ein Kongress von ca. 500 Müttern und 200 Kindern statt. Die Grünen hatten sich bereiterklärt, den Kongress praktisch und finanziell zu unterstützen und das möglich gemacht, was für eine neue Frauenpolitik entscheidend ist: Offenheit für Frauen aus verschiedenen Bereichen und Erfahrungshorizonten, kein Versuch, sie auf vorgegebene Parteilinie oder in eine Parteienstruktur hineinzuzwingen oder zu manövrieren.

Der Kongress war ein ganz außerordentliches politisches Ereignis, denn erstmalig in der Kultur dieser Republik war eine Organisationsstruktur mit Kinderbetreuung angeboten, die so umfassend, liebevoll und kompetent war, daß tatsächlich die meisten Mütter nicht zwischen den Kindern und ihren eigenen öffentlichen Diskussionswünschen hin- und hergerissen und zerrieben wurden wiewohl an den Formen einer geglückten Integration von Erwachsenen und Kindern, an dafür geeigneten Räumlichkeiten und Konzepten in den nächsten Jahren noch viel experimentiert und gelernt werden muß.

Eine bestimmte Öffentlichkeit progressiver Journalistinnen und kritischer Frauen begleitete das Treiben in dieser neuen Form von Öffentlichkeit teilweise mit Unbehagen, teilweise mit Angst und Frustration. Nicht nur die äußere Form, Unterbrechungen durch Kinderzirkus, hin und wieder Kindergeschrei, nicht nur die Tatsache, daß manche Mütter ihre öffentlichen Beiträge ganz unschamhaft damit eröffneten, daß sie eins, zwei, ja vier Kinder oder behinderte Kinder hätten, führten zu dieser Irritation. Dahinter stand vielmehr die tiefe und gegenwärtig noch ungelöste Spannung zwischen verschiedenen Lebensentwürfen, die Betroffenheit von Karrierefrauen mit oder ohne Kinder darüber, dass hier eine Grundstimmung zum Ausdruck kam, wo eine vielfältig strukturierte Gruppe von Frauen artikulierte: „Wir Sind in unserer jetzigen Lebensphase, in unserer Identität hauptsächlich Mütter und gerne Mütter aber wir fordern Bedingungen, diesen Inhalt ohne Ausgrenzung, Abwertung und ständige Unsicherheit leben zu können. Wir sind gerade durch das Leben als Mütter für die Schwächen, aber auch für die Umgestaltungsmöglichkeiten vieler gesellschaftlicher Orte und Prozesse sensibilisiert und haben die Kompetenz, angemessene Änderungsmodelle zu entwickeln. Unser Sachverstand fehlt in einer auf Mütter-, Kinder- und Naturferne eingerichteten Welt allenthalben. Wir betreiben seine Einkehr in die von anderen Perspektiven bestimmte Expertenkultur, sei sie männlich oder weiblich.“

In der eher kritischen oder begriffslosen Öffentlichkeit, die – Ausdruck genereller Mütterfeindlichkeit – diesen Kongreß überwiegend nach außen dokumentierte, war viel von Mutterideologie, von „rechten““ Tendenzen, von perspektivlosem Herumgewurstel an oberflächlichen Scheinlösungen die Rede. Das zeigt, wie sehr sich ein eng begrenzter Politikbegriff auch in den Köpfen vieler Frauen festgesetzt hat, wie wenig die tiefe Dimension einer anderen Art zu kooperieren und dabei wichtige programmatische Perspektiven zu entwickeln, von vielen Männern und Frauen noch verstanden wird, obwohl auch sie ja einmal mit ganz anderen Ansprüchen angetreten sind.

Gerade in der Auseinandersetzung mit traditionellem Politikverständnis hat die Frauenbewegung viele Anstöße für einen neuen Umgang mit den Fragen von Privatheit und Öffentlichkeit, von Macht und Ohnmacht gegeben; doch ist heute klar: Mütter, als größte Gruppe der Frauen, haben noch einmal ganz andere Impulse, Zeitrhythmen, Organisationsformen, Fragestellungen, in denen sich ihre Bedürfnisse ausdrücken. Es wird die Aufgabe der nächsten Jahre sein, das Ghetto der Nichtmütter wie auch das Aquarium der Karrierefrauen zu verlassen und eine neue Debatte über einen erweiterten, ökologischen, zukunftsweisenden Emanzipationsbegriff zu führen. Eine Reduktion von Frauenperspektiven auf Quotierung und das Recht auf Abtreibung wird diesen Dimensionen und Erfordernissen in keiner Weise gerecht.

Ebenso ungenügend ist es, Politik für Mütter allein am Maßstab der Überwindung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung zu messen. Da diese sich nur zäh verschiebt, ist zumindest ein dialektisches Verständnis notwendig: erst eine Stärkung von Müttern in ihrer Ausgangsposition kann eine Basis für konstruktive Annäherung der Geschlechter sein.

Letztlich geht es darum, ein Emanzipationsbild zu entwickeln, in dem die Inhalte traditioneller Frauenarbeit, d.h. die Versorgung von Personen, Wahrnehmung sozialer Bezüge, Hinterfragung von sogenannten ,Sachzwängen“ als legitime Werte integriert sind und entsprechend wertemäßig sozial, politisch, finanziell anerkannt werden. Die Grundfrage der Wertigkeit von Arbeit, d.h. welche Arbeit in der Gesellschaft zu welchem Status, welchen Sicherungen verhilft, ist neu zu stellen.

Diese Grundaussagen bestimmten letztlich Klima und Inhalt der meisten Arbeitsgruppen auf dem Kongreß „Leben mit Kindern – Mütter werden laut““. Am Schluß wurde ganz bewußt auf die übereilte Verabschiedung eines zu schnell zusammengezimmerten pressewirksamen Forderungskatalogs verzichtet. Die politische Wirksamkeit von Müttern, auch wenn manche grüne und feministische Geister dies als Schwäche und ungeschickte politische Taktik einordnen mögen, wird gerade dadurch stark werden, daß die vordergründige politische Hektik, das Taktieren mit plakativen Formeln und unnötige Ausgrenzung entfallen. Vielmehr wird, angestoßen von diesem Kongreß, auf lokaler, regionaler und Bundesebene das Diskussionsgeflecht von Müttern weiter ausgebaut, werden die jetzt noch vorläufigen Forderungen und Denkanstöße in Ruhe weiterentwickelt. Es wird darum gehen, Grundsatzüberlegungen und Perspektiven nicht in einer Flut eng gefasster Forderungen zu ersticken und dennoch die Vision einer mütterfreundlichen Frauenbewegung und Gesellschaft Stück für Stück voranzutreiben. Reale Schritte und ganz und gar grundsätzliche Veränderungsabsichten werden in einer neuen Mütterpolitik nicht auseinander zu dividieren sein. Mütterpolitik ist so fundamental wie absolut real. Sie liegt neben dem klassischen Schema der Rechts/Links-Zuweisungen und sie wird und muß in den nächsten Jahren als neue Dimension in den Programmen der Grünen wie auch in eigenen autonomen Ansätzen niederschlagen.

III.
Im folgenden seien nun einige zentrale Aspekte aufgeführt, die in den verschiedenen Arbeitsgruppen immer wieder auftauchten als Zielvorstellungen -und die als Ausgangsbasis für weitere Entwicklungen dienen können:

1. Grundsätzlich als Anspruch dick unterstrichen:
• Wir wollen alles! • Wir Mütter wollen mitgestalten ! • Wir wollen mitentscheiden – überall !

2. Dazu brauchen wir:
Eine ausreichende und unabhängige finanzielle Sicherung für die Betreuungsarbeit, die wir leisten, während wir sie tun und später. Um eine Mindestrente zu erlangen, muß eine Frau gegenwärtig 35 Kinder gebären und erziehen!

Nur wenn solche ausreichenden Sicherungen da sind, kann und wird langfristig auch ein größerer Teil der Männer verantwortliche Betreuungsarbeit übernehmen. Über die Formen der Sicherung als Mindesteinkommen, Rente, Erziehungsgeld für viele Jahre o. dgl. muß in den nächsten Jahren ausführlich diskutiert werden und dann werden wir sie mit Nachdruck einfordern.

3. Wir brauchen außerdem eine lebendige Infrastruktur für Mütter, die vorübergehend oder langfristig hauptsächlich Mütter und Hausfrauen sind! Wir brauchen maßgeschneiderte Kinderbetreuung für alle Kinder und Mütter, die sie in Anspruch nehmen wollen an jeder Straßenecke, in Kaufhäusern, Behörden, Parlamenten, offen, nach unseren eigenen zeitlichen Erfordernissen. Wir fordern, daß Mütter für solche Betreuungsarbeit im öffentlichen Bereich bezahlt werden können, daß nicht nur formale Qualifikationen gelten. Männer, die eine solche hauptsächlich von Frauen und Kindern geprägte Öffentlichkeit ertragen und mittragen, sind überall herzlich willkommen.

4. Wir brauchen im Rahmen dieser Infrastruktur Nachbarschaftszentren, Mütterzentren, geöffnet den ganzen Tag, Esskasinos, gemeinsame Mittagstische und noch vieles mehr. Es geht darum, Berührungspunkte zu schaffen, wo Mütter sich gegenseitig in der Vielfalt ihrer Lebensstile und Erfahrungen wahrnehmen, sich in ihren Fähigkeiten unterstützen können. Wo heute das stereotypische Bild herrscht, alle Mütter führten eine gleichförmige, eingeengte langweilige Existenz, sind viele unterschiedliche Erfahrungen, Familienformen, Kenntnisse, Optionen vorhanden, die im kreativen Austausch eine enorme Impulskraft für die Gesellschaft entwickeln können. Eine solche Öffentlichkeit ist nicht institutionell und anonym, sondern individuell und gemeinschaftlich zugleich. Für ihre Entwicklung brauchen wir Räume, Geld und Ermutigung. Und vor allem ein Klima, das nicht in jeder Selbstfindung von Müttern ein Ghetto sieht, sondern selbstbewußte Gemeinsamkeit als Vorraussetzung für die Bildung von weiteren Öffentlichkeiten mit anderen Frauen und mit Männern. Schließlich sind sowohl Männer als auch Nicht-Mütter in viel größerem Ausmaß in der Lage, eigene Begegnungsformen herzustellen – es geht um die Schaffung einer gleichwertigen Ausgangssituation für Mütter.

5. Wir brauchen eine Arbeitswelt., die von einer völlig neuer Offenheit geprägt ist. Die kommenden wirtschaftlichen Probleme sollten vorrangig Anlaß sein zu drastischen Arbeitszeitkürzungen, aber auch zu ausgedehnten Experimenten mit qualifizierter Teilzeitarbeit und flexibler Arbeitszeit. Wir brauchen Rückkehrmöglichkeiten in alle Berufe und ganz vordringlich eine Aufhebung aller Altersgrenzen bei der Zulassung zu Fortbildungswegen und Berufswegen aller Art. Der Zynismus von Institutionen, die jungen kompetenten kreativen Frauen ab 35 aus Altersgründen den Zutritt verweigern, ist gerade unbeschreiblich angesichts etwa von politischen Altersdespoten, die hemmungslos. auf erworbenen Machtpositionen beharren -und angesichts der schönen Slogans vom ;lebenslangen Lernen “ die die Bildungsindustrie heute verbreitet.
Wir brauchen einen angemessenen Grundlohn für Frauen, denn die Mehrheit berufstätiger Frauen verdient nicht genug, um sich und ihre Kinder zu ernähren. Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit, d.h. für Frauenarbeit, Umbau der. Kriterien, die Zugang zu höheren Einkommen ermöglichen. Ein offenes und flexibles Leben heißt, daß Wir, die wir die unsichtbare und unersetzliche Fürsorgearbeit leisten, gesicherte Ein. und Ausstiege brauchen! Im Familien- und Nachbarschaftsbereich erworbene Qualifikationen müssen endlich für spätere Berufe als reale Kompetenzen anerkannt und angerechnet werden. Familienarbeit wirkt sich nicht dequalifizierend auf Frauen aus! Selbstverständlich sind solche Perspektiven auch für Männer und Nichtmütter interessant, für uns und unsere Kinder, für die Lebensqualität unserer Gesellschaft aber sind sie lebenswichtig.

6. Im Arbeitsleben haben wir tiefe Zweifel an einer Quotierung, die lediglich kinderlose Frauen gegenüber Müttern bevorzugt. Wir fordern zusätzliche Kinderbetreuung am Arbeitsplatz oder in der Nähe, geeignete Arbeitszeitformen, ausreichenden Lohn für Frauenarbeitsplätze und vor allem, wenn schon Quoten, dann solche, die den Anteil der Mütter an den Frauen mit ausdrücken: z.B. 50 – 70 % aller qualifizierten Frauenarbeitsplätze für Mütter! Der aktiven Spaltung zwischen leicht vom Kapital verwertbaren Frauen und Müttern kann nur durch offensive Platzschaffung für Mütter entgegengetreten werden. Das gilt auch in der Politik!

Selbstverständlich erwarten wir; daß alle individuellen Arbeitszeitverkürzungen, qualifizierte Teilzeitarbeit – auch für Männer – ausgebaut und angeboten, gesetzlich verankert werden. Aber wir können nicht auf Männer warten, uns nicht von ihrem Schneckentempo abhängig machen, was die Einforderung von Spielräumen für Familienarbeit angeht.

7. Im Bereich des politischen Lebens, der großen Worte und Programme, vor allem auch der Grünen Partei, heißt dies: Arbeitsformen müssen endlich Müttern angepasst werden! Drastische Arbeitszeitverkürzungen im Funktionärsbereich, Teilung von Stellen, auch Mandaten, z.B. im Bundesvorstand. Der Frauen- und Mütterbereich hat Vorreiter- und nicht Nachzüglerfunktion. Keine Beschlüsse nach 23 Uhr, Ende für das Meinungsmonopol von studentischer Lebenskultur, Übernahme von Kinderbetreuungskosten auf allen, auch lokalen Ebenen. Eine neue Sitzungskultur, weniger Formalien, mehr Inhalt, weniger Treffen und Kongresse an ganzen Wochenenden würden der programmatischen Arbeit ohnehin mehr nützen als schaden. Politikfreie Wochenenden!

Wir brauchen keine politischen Übermenschen(männer) mit Dauereinsatz, die keinen Blick, keine Zeit mehr für die gesellschaftliche Realität haben, die sie doch positiv gestalten wollen.

8. Wir verlangen das Recht, daß Frauen ihre Kinderwünsche leben können – nicht nur das Recht auf Abtreibung. In Industriegesellschaften, wo das Leben in Strukturen, die noch etwas mit Natur, spontanen Lebensrhythmen, langfristiger Verantwortlichkeit zu tun haben, immer mehr erschwert wird, wo Männer zunehmend ihre Pubertät bis 45 verlängern und sich weigern, mit einer Frau zusammen die Verantwortung für ein Kind zu übernehmen, ist es vordringlich, den Kinderwunsch von Frauen endlich wieder ernst zu nehmen und zuzulassen, statt ihn so grausam zu diskriminieren, wie dies zunehmend der Fall ist. Dies tangiert nicht das fundamentale Recht von Frauen auf Entscheidungs- und Straffreiheit bei Abtreibungen, es ist unantastbar.

9. Es ist vordringlich, daß wir, die wir in späteren Lebensjahren den Großteil, über 80 % der Pflege alter Menschen leisten, auch dafür finanzielle Unterstützung, geeignete Wohnformen, aber auch berufliche Sicherungen und Rückkehrmöglichkeiten bekommen.

10. Es gibt eine große Zahl von Müttern mit behinderten Kindern – für sie alle ist die bessere Unterstützung durch Betreuungseinrichtungen und die Integration von behinderten und gesunden Kindern besonders wichtig. Ebenso wie die Frage von akzeptablen, familienähnlichen Betreuungsformen für erwachsene Behinderte, denn Mütter können sich nicht ihr ganzes Leben für diese Aufgabe einsetzen.

11. Wir möchten mit Männern, den Vätern unserer Kinder – soweit wir nicht getrennt von ihnen leben, und auch dann noch vernünftige und faire Formen der Kooperation. Aber wir wissen, wie schwer es ist, hier gelungene Balancen herzustellen. Viele lesbische Frauen und kinderlose Frauen werfen uns vor, die Väter nicht genügend in die Pflicht zunehmen. Wir weisen diesen Vorwurf von uns und geben ihn zurück: wir sind es, die täglich die Auseinandersetzung mit Männern über ihre Unterstützung im Alltag führen, und hartnäckig ihren Anteil ein. fordern. Manche Männer sind kooperativ, ohne sie wäre unsere Teilnahme am öffentlichen Leben nicht möglich. Andere setzen Grenzen, über die wir nicht hinwegkommen, und dennoch möchten wir die Liebesbeziehung leben. Andere mißhandeln und verachten uns, so daß wir den Trennungsstrich ziehen. Es ist aber das Recht von uns Frauen, sofern wir mit Männern zusammenleben, Form und Inhalt wie auch Grenzen selber zu bestimmen. Wir würden es begrüßen, wenn Männer, Frauen, namentlich auch kinderlose Frauen uns Mütter bei unserer gesellschaftlich wichtigen Arbeit unterstützten. Die enge Fixierung auf partnerschaftliche Lösungen im Privatbereich ist eine gesellschaftliche Scheinperspektive. Zu viele Mütter leben allein, zu viele Beziehungen enden, als daß dies als Lösung ausreichen würde. Außerdem werden Elternbeziehungen gerade dadurch unterminiert, daß sie privat ein Aufgabenbündel bewältigen sollen, das auch für zwei Personen nicht tragbar ist.

12. Wir wissen, daß u.a. durch die Automation eine Schrumpfung des industriellen Arbeitsmarkts und eine Ausweitung des Dienstleistungssektors ansteht. Wir möchten aber kein gesellschaftliches Zukunftsmodell, das F rauen massenhaft zu Mac-Donald-Verkäuferinnen und dequalifizierten Bürokräften macht. Wir möchten vielmehr unsere Phantasie darauf richten, daß bei entsprechender sozialer Sicherung von Frauen (und bereitwilligen Männern), nicht jeder Liebesdienst, alle Versorgung, dem Markt ausgeliefert werden. Wir wollen eine lebenswerte und liebenswerte Mischung aus Hauswirtschaft, Nachbarschaft, aus qualifizierten Berufen, aus eigenem Geldverdienen und der Möglichkeit, anderen zu helfen.

Wir weigern uns, die Reduktion von Personen auf ihre verwertbare Arbeitskraft als einzig wichtige Dimension zu sehen -und möchten dennoch eine vollwertige und eingreifende Existenz als nicht nur familienzentrierte Erwachsene leben.

Wir hoffen, daß die Transformation zur Dienstleistungsgesellschaft nicht Kälte, Entfremdung und Isolation vorantreibt, sondern daß Kreativität, Wärme und Verantwortungsbereitschaft unterstützt und verstärkt werden. Dabei ist jedoch entscheidend, daß auch wir Mütter ein Hinterland bekommen, in dem wir entlastet, unterstützt, aufgebaut, umsorgt werden. Mütter sind nicht mehr bereit und letztlich nicht mehr fähig, ohne ?Input“ in ihre eigenen Reserven, die Grundlagen für alles andere zu schaffen. Ein weiterer Raub. bau an der gesellschaftlichen Mütterlichkeit hat aber ebenso bedrohliche Konsequenzen wie der Raubbau an den natürlichen Grundlagen. Unsere Bereitschaft zur Verantwortung hat also in Zukunft nicht nur einen Wert – sie hat auch einen Preis. Wir sind zutiefst überzeugt, daß dazu eine echte Umverteilung von Männereinkommen und Bezahlung oder Sicherung all derer nötig ist, die die reale Dienstleistungsgesellschaft herstellen. Und das sind mehrheitlich Mütter.
IV.
Es gibt eine lange Liste weiterer Anliegen, die in den Arbeitsgruppen des Kongresses wie auch Gesprächen unter Müttern her. ausgearbeitet wurden. Dennoch geht es uns gegenwärtig nicht um einen geschlossenen Forderungskatalog ohne Widersprüche. Es geht darum, daß Mütter ohne Leistungsdruck ihrer Phantasie freien Lauf lassen und eine gemeinsame Theorie und Praxis sichtbar werden lassen, wie dies ja in den fast 100 Initiativen der Mütterzentrumsbewegung und vielen anderen Gruppen der Fall ist. Es geht darum, die Interessen verheirateter und alleinstehender, berufstätiger und nicht erwerbstätiger Mütter zueinander in bezug zu setzen und zu einem klaren Bündel zu ordnen.

Für die Grünen bedeutet das gegenwärtig, daß sie die Selbstorganisation der Mütter regional und bundesweit, durch Seminare Workshops, Kongresse und Publikationen genauso unterstützen sollten wie andere wichtige Gruppierungen. Eine Bundesarbeitsgemeinschaft Mütter wäre das geeignete Kristallisationsgremium für diese Perspektive – wobei Offenheit über die Grünen hinaus zentrale Vorbedingung ist und bleibt.
Der Anfang für eine Mütterbewegung ist längst gemacht. Jetzt geht es darum, die tiefe Angst einer mütterfeindlichen Gesellschaft abzubauen, den Dialog zwischen Frauen zu eröffnen, Männer für unsere Stärke zu begeistern und dabei ganz tief zu verstehen, daß vorab die Selbstorganisation einer bestimmten Gruppierung mit so zentralen und bisher systematisch ausgegrenzten Interessen ein unverzichtbarer Schritt für die Befolgung einer wichtigen Grünen Maxime ist: Einheit in der Vielfalt.

Erstunterzeichnerinnen des Müttermanifestes:
Dorothea Calabrese, Köln; Gisela Erler, Kelheim; Margit Marx, Bonn; Jutta Schlepütz-Schroeder, Bonn; Patricia Langen, Aachen; Eva Kandler, Bonn; Dorothee Paß-Weingartz, Bonn; Inge Meta-Hülbusch, Kassel; Gisela Klausmann, Bonn; Hannelore Weskamp, Hamburg; Gaby Potthast, Bochum; Barbara Köster, Frankfurt; Renate Jirmann, Bonn; Christa Nickels, MdB, Bonn, Ursula Rieger, Eva-Maria Epple, Frau & Schule, Berlin; Hildegard Schooß, Mütterzentrum, Salzgitter; Barbara Köster, Autonome Frauen, Frankfurt; Monika Jaeckel, Greta Tüllmann, München; Hedwig Ortmann, Hochschullehrerin, Uni Bremen